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Rassismus in Frankreich

Die bekannte französische Romanautorin Virginie Despentes (s. unsere Veranstaltung v. 5. 2. 2019 zu ihrem Buch „Vernon Subutex“, vgl. auch Programm des DFFK 2019) meldet sich mit einem bewegenden Text zum Rassismus  in Frankreich zu Wort aus Anlass der weltweiten Proteste gegen die Ermordung des Afro-Amerikaners George Floyd Ende Mai 2020 in Minneapolis.

Virginie Despentes:
„Brief an meine weißen Freunde, die nicht wissen, wo das Problem liegt…“
Virginie Despentes ist Schriftstellerin. In diesem Brief, den sie nach der Solidaritätsdemonstration für Adama Traoré verfasst hat und der sich an ihre weißen Freunde richtet, „die nicht sehen, wo das Problem liegt…“ prangert sie das Leugnen des Rassismus an und erklärt, warum „weiß sein“ ein Privileg ist. ( Bilduntertext)


„In Frankreich sind wir nicht rassistisch, aber ich kenne keinen einzigen schwarzen oder arabischstämmigen Menschen, der bei dieser Frage die Wahl hätte.“
Virginie Despentes@Getty/Nora Carol Photography
Paris, 3.Juni 2020

Ich erinnere mich nicht, jemals einen schwarzen Menschen gesehen zu haben, der ein Ministeramt bekleidete. Dabei bin ich fünfzig Jahre alt und habe einige Regierungen erlebt. In Frankreich sind wir nicht rassistisch, aber unter den Insassen unserer Gefängnisse sind Schwarze und Araber überdurchschnittlich stark vertreten. In Frankreich sind wir nicht rassistisch, aber während der fünfundzwanzig Jahre, in denen ich Bücher herausbringe, habe ich ein einziges Mal auf die Fragen eines schwarzen Journalisten geantwortet. Ein einziges Mal hat mich eine Frau fotografiert, die aus Algerien stammte. In Frankreich sind wir nicht rassistisch, aber das letzte Mal, als ich auf der Terrasse eines Cafés nicht bedient wurde, war ich in Begleitung eines Arabers. Das letzte Mal, als ich nach meinen Papieren gefragt wurde, war ich in Begleitung eines Arabers. Das letzte Mal, als die Person, auf die ich wartete, fast den Zug verpasst hätte, weil sie sich im Bahnhof einer Passkontrolle zu unterziehen hatte, handelte es sich um eine Schwarze. In Frankreich ist man nicht rassistisch, aber während des „Lockdowns“ sah man Familienmütter, die festgehalten wurden mit der Begründung, dass sie den kleinen Zettel nicht hatten, mit dem man sich selbst die Erlaubnis erteilen musste, das Haus zu verlassen, und es waren Frauen aus Arbeitervierteln, die nicht europäisch aussahen. Uns Weiße konnte man währenddessen beim Joggen sehen oder beim Shoppen im 7. Arondissement. In Frankreich ist man nicht rassistisch, aber als verkündet wurde, dass die Sterblichkeitsrate in Seine Saint-Denis 60-mal höher lag als der Landesdurchschnitt, haben wir uns nicht nur ziemlich wenig davon betroffen gefühlt, sondern unter uns sind wir so weit gegangen, es folgendermaßen zu erklären: „Es liegt daran, dass sie schwer Distanz halten können.“ In Seine Saint-Denis gibt es die wenigsten Ärzte pro Einwohnerzahl im gesamten Land. Die Menschen dort haben jeden Tag die
öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, um mit ihrer Arbeit das öffentliche Leben am Laufen zu halten.
Im Zentrum herrschte „Garten-Party“ jeden Tag, unterwegs mit dem Kinderwagen, mit dem Fahrrad, im Auto, zu Fuß… fehlte nur noch der Roller. Aber man hielt es für angebracht, zu kommentieren:
„Sie können eben schwer Distanz halten“. Ich kann schon das Geschrei der Twitterer vom Dienst hören, die extrem empfindlich reagieren, sobald jemand das Wort ergreift um etwas zu sagen, das nicht der offiziellen Propaganda entspricht“… wie schrecklich…, aber warum denn diese Gewalt?“

Als wenn das nicht Gewalt gewesen wäre, was sich am 19. Juli 2016 ereignet hat. Nicht Gewalt, als die Brüder von Assa Traoré ins Gefängnis kamen. An jenem Dienstag gehe ich zum ersten Mal im Leben zu einer politischen Versammlung von mehr als 80.000 Menschen, organisiert von einer nicht weißen Community. Diese Versammlung ist nicht gewalttätig. Nun, am 2. Juni 2020, ist Assa Traoré Antigone in meinen Augen. Aber diese Antigone lässt sich nicht lebendig begraben, nachdem sie es gewagt hat, nein zu sagen. Antigone ist nicht mehr allein. Sie hat eine Armee versammelt. Die Menge skandiert: „Gerechtigkeit für Adama!“ Diese jungen Leute wissen, was sie sagen, wenn sie sagen, wenn du schwarz oder arabisch bist, hast du Angst vor der Polizei: Sie sagen die Wahrheit. Sie sagen die Wahrheit und sie fordern Gerechtigkeit. Assa Traoré nimmt das Mikro und sagt allen, die gekommen sind: „Euer Name ist in die Geschichte eingegangen. Und die Menge klatscht nicht Beifall, weil sie charismatisch oder fotogen ist. Die Menge klatscht, weil die Sache gerecht ist. Gerechtigkeit für Adama. Gleiches Recht für die, die nicht weiß sind. Und die Weißen rufen uns die alten Parolen zu, und wir wissen, sich nicht zu schämen, sie immer noch schreien zu müssen, im Jahr 2020, wäre eine Schande. Scham ist das absolute Minimum.

Ich bin weiß. Ich verlasse jeden Tag das Haus, ohne meinen Ausweis mitzunehmen. Leute wie ich kehren dann noch einmal um, wenn sie ihre Kreditkarte vergessen haben. Die Stadt sagt mir: Du bist hier zu Hause. Eine Weiße wie ich bewegt sich, sofern keine Pandemie herrscht, frei in dieser Stadt, ohne überhaupt wahrzunehmen, wo Polizisten sind. Und ich weiß, sollten sie sich zu dritt auf meinen Rücken setzen, bis ich ersticke – aus dem einzigen Grund, dass ich versucht habe, einer Routinekontrolle auszuweichen – würde daraus ein Skandal gemacht werden. Ich bin als Weiße geboren, wie andere als Männer geboren werden. Es geht nicht darum, zu erklären, „ich habe nie jemanden getötet“, so wie sie sagen „ich bin kein Vergewaltiger“. Denn das Privileg ist, die Wahl zu haben, daran zu denken oder nicht. Ich kann nicht vergessen, dass ich eine Frau bin. Aber ich kann vergessen, dass ich weiß bin. Eben das bedeutet es, weiß zu sein. Daran zu denken oder nicht daran zu denken, je nach Lust und Laune. In Frankreich sind wir nicht rassistisch, aber ich kenne keine einzige schwarze oder arabisch-stämmige Person, die diese Wahl hätte.
Virginie Despentes
(Deutsch von Dr. Beeke Dummer)

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